Wie Wolfgang Niedecken in den Liner Notes des sechsten Live-Albums von BAP (und zugleich dem ersten für ihr neues Label Universal Music) schreibt, sei dieses Doppelalbum im Grunde ein „Märchen“ – oder wie er es auf den Konzerten mit rheinischer Direktheit formulierte: „Alles gelogen …“ Damit spielt Niedecken auf das Motto der Tour an, „BAP zieht den Stecker“ (eine alternative Formulierung statt „BAP Unplugged“, nachdem MTV die Namensrechte an ihrer Marke „Unplugged“ nicht herausgeben wollte). Aber egal ob „Unplugged“ oder „steckerlos“: Auch akustische Live-Musik bedarf natürlich elektrischer Verstärkung, von der sonstigen Bühnentechnik ganz zu schweigen.
Das Ironische an dem „gelogenen“ Motto ist nun aber, dass dieses Album vielleicht das ehrlichste in der langen BAP-Diskographie ist, weil es in den neuen Arrangements gleichsam die Essenz der Band freilegt – nämlich die Musik, die Texte, die Songs. Und doppelt ironisch ist dabei, dass es, wie Niedecken selber sagt, ein „Zufall“ war, wie es zu der Tour und damit auch zu diesem Album kam. Denn es war sein am 2. November 2011 erlittener Schlaganfall, der dazu führte, dass Niedecken seinen lange gehegten, aber immer wieder verschobenen Traum von einem Akustikalbum endlich wahrmachte und nach Woodstock fuhr. Dort nahm er die Songs für sein ruhiges und reduziertes Soloalbum „Zosamme alt“ mit amerikanischen Musikern auf, die demonstrierten, dass Kölsche Lieder und Americana eigentlich gar nicht so weit auseinander liegen.
Die völlig neuarrangierten BAP-Stücke plus einem neu geschriebenen Titelsong (sowie einer Dylan-Coverversion als Epilog), die eine Liebes- und Dankeserklärung an seine Ehefrau und Lebensretterin Tina Niedecken ergeben (sie hatte durch ihr beherztes Handeln unmittelbar nach dem Schlaganfall Schlimmeres verhindert), bildeten dann auch die Grundlage für die Tour, die am 14. März 2014 in Berlin begann, nachdem man sich zwei Tage zuvor bei einem Warm Up-Gig in Ludwigshafen die nötige Sicherheit geholt hatte. Denn genauso wie das lang verschobene Unplugged-Album sah Niedecken nun endlich die Gelegenheit gekommen, nach all den Jahren eine Akustiktour zu spielen, nachdem er in der Vergangenheit der Versuchung am Ende doch nicht widerstehen konnte, „affzurocken“ (um mit dem Titel eines 1991erschienenen Livemitschnitts von BAP zu sprechen).
Und die Akustiktour wurde ein auch für den Veranstalter Semmel Concerts wie Niedecken ein überraschender, überwältigender Erfolg: Für die restlos ausverkauften 32 Shows wurden mehr als 50.000 Tickets verkauft, für die Fortsetzung der Tour im Sommer und Herbst rechnet der Veranstalter mit weiteren 50.000 abgesetzten Konzertkarten. Die Fans müssen geahnt haben, dass das etwas ganz Besonderes auf sie zukam.
„Für uns ist diese Tour eine Möglichkeit zu zeigen, dass man auch in Würde altern kann. Man kann auch wenn’s sein muss mal im Sitzen spielen und dabei beim Singen nicht gegen die E-Gitarren oder das Schlagzeug ankämpfen“, berichtet Niedecken. Diese entspannte Atmosphäre kann man bei den 30 Songs förmlich hören, die bei den drei Konzerten in der Kölner Philharmonie vom 22. bis 24. April aufgenommen wurden – wobei „Kristallnaach“ von der Kölner Birlikte-Kundgebung am 9. Juni stammt, die dem Nagelbomben-Attentat der NSU vor zehn Jahren in Köln-Mölheim gedachte.
Einen großen Anteil an der musikalischen Leistung hat die für diese Tour erweiterte Mannschaft. Neben den BAP-Mitgliedern Werner Kopal (Bass), Michael Nass (Tasteninstrumente) und Jürgen Zöller (Schlagzeug) standen auch die langjährige BAP-Multiinstrumentalistin Anne de Wolff (Geige, Bratsche, Cello, Posaune, Harmonium etc.), ihr Ehemann Ulrich Rode (diverse Saiteninstrumente, u.a. Pedalsteel, Saz und Cümbüs) und Rhani Krija (Percussion, bei der Birlikte-Kundgebung vertreten durch Sönke Reich) auf der Bühne. Als besonderen Gast hatte Niedecken zudem seinen alten Freund Julian Dawson (Mundharmonika) eingeladen, der ihm einst vorgeschlagen hatte, doch einmal mit amerikanischen Musikern ein ganz anderes Album außerhalb des BAP-Kosmos zu produzieren – wobei dann schließlich besagtes „Zosamme alt“ herausgekommen war.
Was sich auf Papier mit acht Musikern beinahe liest wie ein kleines Orchester, ergab bei den Konzerten jedoch einen intimen, in Wahrheit kammermusikalischen Sound von nachgerade magischer Ausstrahlung. Denn alle Musiker nahmen sich völlig zurück, stellten sich und ihre Instrumente in den Dienst der Songs, die trotz oder gerade wegen der anderen Arrangements ihre ursprüngliche Kraft offenlegen. Selbst alte BAP-Schlachtrösser wie „Verdamp lang her“ und „Kristallnaach“ bringen nun wieder in Erinnerung, warum die Band und ihr Vordenker in den 80er Jahren so erfolgreich und darüber hinaus zu einer gesellschaftspolitischen Instanz wurden: Denn hier waren Songs, die etwas bedeuteten, die etwas sagten und für etwas standen.
Das gilt natürlich auch für die Liebeslieder wie etwa „Räaäts un links vum Bahndamm“ oder „Du kanns zaubre“, die in den neuen Versionen noch intensiver wirken. Besonders bewegend sind darüber hinaus das Soldatenschicksal „Jupp“ (aus der LP „Für usszeschnigge“ von 1981) und als letzte Zugabe, das lange nicht mehr gespielte „Sendeschluss“. Das im Original aus dem 1984 veröffentlichten Album „Zwesche Salzjebäck un Bier“ stammende Stück, eine skizzenhaft angelegte Gesellschaftsbeschreibung der alten Bundesrepublik, offenbart in der neuen Fassung seine zeitlose Qualität.
Und es sind nicht nur die Texte, die in dem anderen musikalischen Kontext gewinnen. Auf dem neuen Konzertdokument spürt man, dass die Musiker Spass haben, die Stücke gleichsam neu zu entdecken und mit ihnen zu experimentieren. Eine entscheidende Rolle spielten dabei der Sting-Begleiter Rhani Krija, dessen subtile wie farbenfrohe Percussion-Arbeit die Stücke abheben lässt, und Multi-Instrumentalist Ulrich Rode (unter anderem aktiv für Annett Louisan, Roger Cicero, Rosenstolz, Bosse und Konstantin Wecker), der auf allerlei Saiteninstrumenten – wie auf einer eigens von Niedecken für Birlikte gekauften Saz, die Songs noch einmal auf eine andere Ebene hievt.
Diese Spielfreude hielt sich bis zum Abmischen des Albums. „Selten hatte ich beim Mixen der Tracks so viel Spass“, erzählt Niedecken, der zugibt, dass es beim Abmischen von früheren Live-Alben schon einmal ermüdend sein konnte, die Songs, die man zuvor Abend für Abend live gespielt hatte, nun wieder und wieder durchzuhören. „Das war jetzt anders. Für mich war das einfach die pure Freude, noch einmal zu hören, was wir da aufgeführt haben.“
In der Tat können Wolfgang Niedecken und BAP darauf stolz sein, dass eine Formation, die in zwei Jahren ihr 40-jähriges Bandjubiläum feiert, mit einem Album wie „Das Märchen vom gezogenen Stecker“ noch einmal überraschen und zu neuen Ufern aufbrechen kann. Manchmal werden aus Märchen eben doch noch Wahrheiten.
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